#43 Der Gast in grau

25. September 2011 at 11:27 (Kurzgeschichten, Kurzgeschichten - nachdenklich, Kurzgeschichten - traurig) (, , , , , , , )

„Haben Sie denn nichts anderes zu tun?“, würde ich ihn gerne fragen. „Haben Sie keine Arbeit?“ Aber natürlich tue ich es nicht, das wäre schlecht fürs Geschäft. Soll er ruhig jeden Tag (außer sonntags) hier sitzen und seine Zeitungen lesen. Zuerst, so gegen 10 Uhr, gibt es Kaffee, einen großen Braunen mit viel Zucker und einem Glas Mineralwasser. Kurz nach 12 Uhr bestellt er ein kleines Bier, das flüssige Mittagessen. Nachmittags noch einen Kaffee und etwa um 18 Uhr faltet er seine Zeitungen ordentlich zusammen und macht sich auf den Weg – „bevor die Kaufhäuser schließen, wissen Sie“.

So manche fragwürdige Gestalt geht hier ein und aus, aber er ist mit Abstand der seltsamste Gast. Er kann kaum älter als mein Vater sein, müsste also noch ein paar Jährchen arbeiten, bevor er seine Pension in Kaffeehäusern genießen kann. Und er hat auch keine offensichtlichen Gebrechen, die ihn am Arbeiten hindern würden. Was tut er also im „Café Sperling“?

Meistens ist er in Grau- oder Brauntöne gekleidet, gerne karierte Stoffe. Hut und Mantel sind ebenfalls grau und hängen immer am selben Haken. Die Kleidung wirkt nicht schäbig, aber ich vermute, er hat trotzdem nicht viel Geld. Sonst würde er vielleicht mehr konsumieren. Aber ich darf mich nicht beschweren, das Trinkgeld ist in Ordnung.
Beim Lesen trägt er eine Brille. Sie aufzusetzen stellt jedes Mal eine aufwändige Prozedur dar. Zuerst muss er sie tief aus der Manteltasche zaubern, wie ein Kaninchen aus dem Hut. Und dann muss sie noch umständliche auf seine Hakennase gesetzt werden. Aber sie hält nicht gut. Einmal habe ich mitgezählt. 165 Mal ist sie ihm auf die Nasenspitze gerutscht. Und 165 Mal hat er sie zurückgeschoben. Das bedeutet, er muss etwa alle dreieinhalb Minuten seine Brille richten. Wenn er mit mir spricht, ist die heruntergerutschte Brille aber ganz praktisch. Dann mustert er mich über deren Rand hinweg und sieht mich dann wohl (mehr oder weniger) scharf.

Manchmal denke ich, er fristet wegen mir seine langen Tage in dieser kleinen Spelunke mitten in der großen Stadt. Der Kaffee ist hier nicht besser als sonst wo, das Bier ist meist warm, da die Kühlung von Zeit zu Zeit streikt und die Speisekarte, die der Besucher nie eines Blickes würdigt, lässt zu wünschen übrig.

Sobald ich mich seinem Tisch nähere, blickt er auf und lächelt mich freundlich an. Irgendein Gesprächsthema fällt ihm immer ein. Und wenn es nur das Wetter ist. Ich nicke dann, antworte etwas und tue so, als hätte ich viel zu tun. Obwohl das unsinnig ist, er sieht ja, dass ich nichts zu tun habe. Irgendetwas sträubt sich in mir, wenn er versucht, mit mir über persönliche Dinge zu sprechen. Ich will ihn nicht in mein Privatleben hineinlassen. Ich traue Männern in seinem Alter nicht, weil so viele Angst vor dem Älterwerden haben. Und dann junge Frauen an ihrer Seite haben wollen, um dieser Angst nicht ins Auge sehen zu müssen. Vielleicht nehme ich es ihnen nur übel, dass sie meine verklärte Vorstellung von Liebe und verhutzelten alten Ehepaaren, die ihr ganzes Leben miteinander verbrachten, kaputt machen.

Während ich die Gläser zum gefühlten hundertsten Mal poliere (bald werden sie sich in glänzende Luft auflösen), mustere ich ihn. Er liest seine Zeitung, ganz langsam. Das erkenne ich daran, dass er nur sehr selten umblättert. Keiner dieser aufdringlichen Zeitungsraschler. Manchmal, wenn ich ihn mit einem Blick streife, habe ich das Gefühl er liest gar nicht. Er schaut einfach durch die Buchstaben hindurch, in eine andere Welt. Vielleicht in eine Welt, wo er nicht den ganzen Tag in einem schäbigen Café mit einer unfreundlichen Kellnerin sitzt.
Ich wünschte, er würde gehen. Meine Füße tun höllisch weh vom scheinbar geschäftigen Saubermachen und hinter-der-Theke-auf-und-ab-Gehen, ich möchte mich endlich hinsetzen und selbst ein bisschen in einer Illustrierten blättern. Aber er geht nicht, schließlich ist es noch nicht 18 Uhr.

Um Punkt sechs Uhr abends steckt er die Brille wieder in die Untiefen seiner Manteltasche zurück und zieht sich an. Er kommt noch einmal zurück und stützt sich auf die Theke.
„Wissen Sie, ich habe einen Sohn in Ihrem Alter“, sagt er. Ich nicke und lächle mein höfliches eigentlich-interessiert-mich-das-nicht-Lächeln. „Ich würde Ihnen Robert gerne vorstellen“, fährt er fort und wartet aufmerksam auf meine Reaktion. Ich ziehe die Augenbrauen hoch. Ich glaube, ich möchte seinen Sohn nicht kennen lernen, überhaupt will ich niemanden kennenlernen, muss aber diplomatisch bleiben.

„Bringen Sie ihn doch mit“, sollte ich sagen, aber stattdessen sage ich: „Ich weiß nicht, ob meinem Freund das gefallen würde…“ Ich sehe zu Boden, weil meine Augen mich sonst betrügen würden. Er weiß trotzdem, dass ich lüge.
„Auf Wiedersehen“, sagt er und ich antworte eifrig: „Bis morgen!“, obwohl ich weiß, dass er morgen nicht komme wird und auch an keinem anderen Tag. Ich vermisse ihn jetzt schon.

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