#25 Auf der Suche

15. August 2010 at 21:18 (Kurzgeschichten, Kurzgeschichten - Liebe, Kurzgeschichten - nachdenklich) (, , , , , , , , )

Zwei Monate nachdem meine Großmutter verstorben war, waren meine Mutter und ich in unserem Trauerprozess endlich soweit fortgeschritten, dass wir damit beginnen konnten, Omas Habseligkeiten auszusortieren. Es war an jenem kühlen Mai-Abend, dass wir, im mittlerweile etwas muffig riechenden Wohnzimmer in der Wohnung meiner Großmutter, auf eine Schachtel mit Fotos stießen. Wir knieten vor dem tiefen Mahagonischrank, dessen Inhalt wir auf drei Stapel türmten: Wegwerfen, Behalten und Verschenken. Leder- und Stofftaschen, Schmuck und einige Bücher verteilten sich bereits auf die Stapel, wobei die Wegwerf-Sammlung nur einen von Motten zerfressenen Beutel enthielt. Wir konnten uns nur allzu schwer von Omas über die Jahre erworbenen Schätzen trennen.

In der hintersten Ecke des Mahagonischrankes stießen wir also auf jenen Karton mit Fotos. Behutsam öffnete ich die Schachtel, die von einem antiken Lindt-Schriftzug und dem Abbild von ein paar Pralinen geziert wurde. Meine Mutter und ich beugten uns neugierig über die Schwarz-Weiß-Fotografien, die jeweils von einem weißen, gezackten Rahmen umsäumt wurden.
Das erste Foto zeigte meine Großmutter vor dem Eiffelturm, wie sie schelmisch dem Fotografen einen Kussmund zuwarf. Sie trug einen frechen Kurzhaarschnitt, eine helle Bluse mit Rüschen und einen für damalige Verhältnisse wohl recht kurzen Faltenrock. Die Datierung auf der Rückseite verriet uns, dass meine Großmutter zu diesem Zeitpunkt gerade erst achtzehn Jahre alt gewesen war.

Die restlichen Bilder stammten alle aus derselben Zeit, die Dokumentation ihrer Reise erstreckte sich über einen Monat. Auf den Fotos war immer nur sie zu sehen, abgelichtet vor weiteren Sehenswürdigkeiten, dem Arc de Triomphe, später vor der Berliner Mauer und dem Brandenburger Tor und zu guter Letzt auf der London Bridge und neben den Houses of Parliament.
Immer hatte sie ein spitzbübisches Lächeln auf den Lippen und ihre Augen schienen auch auf den Schwarz-Weiß-Fotos vor Glück und Verliebtheit nur so zu funkeln. Zwischen den Attraktionen der jeweiligen Städte gab es auch Bilder, auf denen sie sich für den Fotografen lasziv in einem Korbstuhl räkelte oder ihm über eine Tasse Kaffee hinweg in einem sonnenbeschirmten Straßencafé anflirtete.

Wir hatten die Fotos schweigend betrachtet, aber als wir die Bilder wieder ordentlich nach Datum sortiert zurück in die Schachtel stapelten, platzten die Fragen nur so aus mir heraus. Mit wem war sie dort gewesen? Was hatte sie meiner Mutter von der Reise erzählt? War der Fotograf vielleicht mein Großvater?
Vor uns tat sich eine leere Stelle in Omas Biografie auf. Sie hatte ihrer einzigen Tochter nie von dieser Reise erzählt und auch zu wenig von ihrem Liebesleben, als dass sie Rückschlüsse auf den damaligen Begleiter hätte ziehen können. Meine Mutter wusste ja nicht einmal, wer ihr Vater war, geschweige denn, wie meine Großmutter ihn kennengelernt hatte.
Bei den seltenen Anlässen, wo sie über ihn geredet hatte, hatte sie ihn nur zärtlich „mein Prinz“ genannt, sein Name war ihr nicht zu entlocken gewesen. Er war ihre große Liebe gewesen, aber das Wissen darüber, was aus ihm geworden war, hatte sie mit ins Grab genommen.

Ein Studienmonat lag noch vor mir, bevor die Semesterferien begannen. Ich konnte mich kaum auf den Stoff konzentrieren, meine Gedanken kreisten immerzu um diese Seite meiner Großmutter, die ich nicht gekannt hatte. Es ist wohl eine Eigenart der Jugend, dass sie nicht verstehen kann, dass die eigenen Vorfahren und überhaupt alle, die älter sind als man selbst, auch einmal jung gewesen sind.
Was würde ich später meinen Enkelkindern erzählen? Und welche Geheimnisse würde ich vor ihnen verstecken? Plötzlich wollte ich auch unbedingt wissen, wer mein Großvater war und ob er der Mann war, der sich hinter dem Fotoapparat verborgen und dem meine Großmutter verliebte Blicke zugeworfen hatte.

So brach ich in jenem Sommer mit einer Handvoll Fotos in der Tasche auf. Mein erster Stopp war Paris. Ich besuchte die Orte, an denen die Bilder meiner Oma entstanden waren und hielt eigene Erinnerungen fest. In Berlin blieb ich länger als geplant und machte mehr Fotos als erwartet.
In London sah ich meiner Großmutter wohl am Ähnlichsten: Das Glück zauberte mir ein strahlendes Lächeln auf die Lippen, ich hatte dieselbe Kurzhaarfrisur und ich hielt immer neue Posen für meinen Fotografen bereit.
Nach einem Monat kehrte ich von der Suche nach meiner Vergangenheit zurück. Informationen über meinen Großvater hatte ich auf den Spuren meiner Großmutter nicht gefunden – aber mich selbst.

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